#D98FCI | Ein Gegengerade-Abschiedsbrief

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02.05.2015, Fussball, 2.Bundesliga SV Darmstadt 98 - 1. FC Kaiserslautern Vor dem Spiel: Gegengerade Foto: Herbert KrŠmer

Der Vorbericht zum Spiel gegen Ingolstadt geht diesmal weg vom Fußballgeschehen. Über die sportliche Situation weiß ja sowieso jede*r Bescheid. Ich habe der Gegengerade einen letzten Brief geschrieben, mit dem ich mich für 31 Jahre bedanken will:

Liebe Gegengerade,

gibt es einen anderen Ort, der so eine Konstante im Leben ist? Mal abgesehen vom Haus oder der Wohnung, in der man groß geworden ist, wenn man nicht in eine Familie hineingeboren wird, die viel umziehen muss? Weder Schule noch Beruf sind so konstant…

Du bist etwa alle zwei Wochen der Ort, zu dem man zurückkehrt und von dem aus man weitermacht. An dem vieles so ist, wie es schon immer war, obwohl sich so vieles ändert. Ich habe Dich ziemlich gefüllt erlebt, bei unserer ersten Begegnung, habe mich nicht ganz in Dich hinein getraut, blieb ein paar Meter hinter dem Flutlichtmast noch halb in der Kurve stehen, im Alter von sieben Jahren. Doch ich war keine drei Minuten da, schon bist Du erbebt durch ein Tor von Guangming Gu. Unvergesslich die jubelnde Masse, unvergesslich die umherfliegenden Papierfetzen und Konfettis. Um Fantrennung scherte sich damals kein Mensch, Du warst offen, nahmst jeden auf. Es war um mich geschehen.

Es gab Zeiten, in denen ich Dich leer erlebt hab. Sehr leer sogar. Es mögen sich die üblichen 2.000 Leute im Stadionrund verirrt haben, man konnte sich 15 Minuten vor Anpfiff noch einen bequemen Platz an einem Wellenbrecher aussuchen, kannte fast alle vom Sehen. Einige skurrile Figuren waren auch dabei, wie der – ich sag mal – „positiv Verrückte“, der mit seiner Tröte da stand und bei jedem Spiel dieselben zwei oder drei Schrei-Ausbrüche in seinem Repertoire hatte: „Notschlachten“ und „Schiri verrecke“! Andere Gegengeradler werden wissen, wen ich meine…

Zunächst stand ich immer auf halber Höhe, ein paar Meter vor Höhe der Mittellinie. Mit den Jahren hat sich alles bei mir etwas nach oben verlagert, besserer Überblick, weniger Menschen hinter einem. Bis zum Pokalspiel gegen Schalke Ende 2001 hatte ich das Böllenfalltor noch nie ausverkauft erlebt, selbst für das 100-Jahre-Spiel gegen die Bayern müsste es noch Karten gegeben haben, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht. Damit ging einer meiner großen Wünsche in Erfüllung. Mal zu erleben, wie sich das Böllenfalltor in komplett „eng“ anfühlt. Der zweite große Wunsch, die Lilien wieder zurück im Profifußball, also mindestens der 2. Liga zu sehen, ging dann 2014 durch die Relegations-Sensation in Erfüllung. Von der 1. Bundesliga hatte ich gar nicht zu wünschen gewagt, denn das war zu absurd, zu weit weg waren die Geschichten der „Alten“ von Peter Cestonaro und Ede Westenberger.

Zwei der drei emotionalsten Momente am Bölle habe ich auf der Gegengeraden erlebt: Der eine, als ich sah, wie der Wimpel beim Spiel gegen Memmingen im F-Block hochging, der andere, als der Schiri das Spiel gegen die Stuttgarter Kickers abpfiff und die ganze Entwicklung von 2011 bis 2013 ausradiert zu sein schien. Den dritten Moment habe ich an der Tür zur Sprecherkabine erlebt, ich weiß nicht mehr, ob ich Fanradio-Dienst hatte oder so, als Gondorf den Ball auf die Tribüne drischt, der Schiri abpfeift, der Platz binnen Sekunden von glücklichen Menschen geflutet wird. Freudentränen will und kann man nicht bekämpfen…

Aber zurück zu Dir, liebe Gegengerade. Wir hatten schon 2014 Angst um Dich, um eine weitere Geschichte zu erzählen. Es war die Zeit, in der alles relativ schnell möglich zu sein schien, daher wollten wir Dich unbedingt verewigt sehen. Den bekannten Stadionfotografen Reinaldo Coddou H. baten wir, Dich zu portraitieren. Das BÖLLE-Buch ist ein Muss für jeden Lilienfan geworden. Wenige Wochen vor der Relegation gegen Bielefeld durfte Arminia-Fan Coddou Deine windschiefen gelben Treppenstufen, Deine Blumen, Deine Bechermüll-Last nach den Spielen, Deine spielenden Kinder unten auf dem Grünstreifen ins Bild setzen. Hätte er es damals geahnt…

Nun werden wir Dir „auf Wiedersehen“ sagen. Gegen Ingolstadt, am 8. Dezember 2018? Diesmal gibt es keinen Nachschlag, so wie nach dem Aue-Spiel. Mit welcher Emotion…? Fest steht, Du wirst uns ein letztes Mal tragen, in Freud oder Leid, wie Du es immer getan hast.

Liebe Gegengerade, selbst wenn Du jetzt gehst – umgebaut wirst – und ein neues Gesicht erhältst: Du wirst die „Gegengerade“ bleiben. Vielleicht änderst Du Dein Wesen etwas, dadurch, dass oben Leute sitzen können. Manche werden Dich vielleicht „Gegentribüne“ nennen. Brrr… Wir alle verändern uns ein bisschen, mit der Zeit. Dafür bekommst Du ein Dach. Wir werden (mal sehen, wie es auf den untersten Plätzen sein wird…) im Trockenen stehen – und sitzen. Vielleicht entfaltest Du dann noch mehr Kraft als Du es bisher konntest, weil der Schall Richtung Waldsportplatz verweht wurde.

Was aber keine Veränderung der Welt je wird ändern können: Du wirst für so viele Menschen der Ort bleiben, an dem etwa alle zwei Wochen alles endet und alles wieder beginnt.

Dein Markus

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