LILY – Das Konzept

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Fotos: Nicole Ferdinand – Fotografie | www.nicoleye.de

Hier geht es zum Download des Konzepts als pdf-Datei: Konzept LILY

„LILY“ – Anlaufstelle für Lilien-Frauen

1. Einleitung
Weibliche Fans sind aus den Fankurven in Deutschland und weltweit nicht wegzudenken. Frauen nehmen immer selbstverständlicher ihren eigenen Platz im Stadion ein und sind im Laufe der Jahre auch nach außen sichtbarer geworden. Sie bereichern die Fußballkultur insgesamt und sind ein gleichberechtigter Teil vieler Facetten davon. Dennoch ist aufgrund von Vorurteilen, klischeehaften Rollenbildern, Gedankenlosigkeit oder durch das bewusste Übertreten von Grenzen ein komplett gleichberechtigtes und geschlechter-unspezifisches Stadionerlebnis derzeit noch nicht immer gewährleistet. Wir möchten dazu beitragen, dass sich weibliche Fans bei Lilienspielen genauso willkommen, wertgeschätzt und wohl fühlen wie alle anderen Stadionbesucher auch.

Geschlechterspezifische Rollenbilder, Klischees und Vorurteile sind in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens noch immer präsent, können sich aber im Fußball-Kontext in besonderer Weise zeigen. Die deutlichsten Auswüchse, nämlich sexuelle Belästigungen und sexualisierte Gewalt, sind somit auch keine alleinigen Phänomene im Bereich des Fußballs. Trotzdem ist dieser Bereich des Fußballs (für weibliche Fans) besonders anfällig, da Heim- und Auswärtsspiele – sowie deren Anfahrten – Massen von Fußballfans anziehen, in denen Einzelne oftmals anonym Grenzen überschreiten können, ohne ernsthafte Konsequenzen fürchten zu müssen.
Dem SV Darmstadt 1898 e.V. sind zwar bislang keine sexuellen Übergriffe bekannt geworden. Allerdings haben schätzungsweise 95% der Frauen im Kontext Fußball (Spielerinnen, Fans, Schiedsrichterinnen etc.) bisher Erfahrungen mit Sexismus machen müssen (Fußnote 1). Eine Umfrage von F_in und „Unsere Kurve“ (Fußnote 2) zeigt auf, dass immer noch eine große Handlungsunsicherheit bzgl. sexualisierter Gewalt im Kontext Fußballstadion besteht und Vorfälle bisher nicht systematisch erfasst werden.
Es ist gemäß der satzungsmäßigen Selbstverpflichtung des SV Darmstadt 1898 e.V. (§ 3, Abs. 4) dessen Aufgabe, aktiv dabei mitzuwirken, ein Stadionerlebnis frei von jeder Art der Diskriminierung – also auch von geschlechterspezifischer Diskriminierung – zu ermöglichen. Ähnlich wie durch unseren benannten Ansprechpartner gegen Homophobie soll daher auch bei sexistischen Vorkommnissen eine Anlaufstelle für Lilien-Frauen geschaffen werden.
Beide Anlaufstellen sind Teil des gesamten Konzepts zu sozialer Verantwortung des SV Darmstadt 1898 e.V., das darüber hinaus z.B. einen Beauftragten für Menschen mit Behinderung oder Maßnahmen zur Teilhabe von Menschen, die nur über stark eingeschränkte finanzielle Mittel verfügen, umfasst.
Durch die Etablierung solcher Anlaufstellen soll ein Umfeld beim SV Darmstadt 1898 e.V. geschaffen werden, das sich eindeutig gegen allgemeine und konkrete Formen der Diskriminierung positioniert, Grauzonen in diesem Bereich entgegenwirkt und Handlungsmöglichkeiten für eventuell betroffene Personen aufzeigen sowie Schamgrenzen abbauen kann.
Bevor die Zielsetzungen und die Funktionen von „LILY“ – der Anlaufstelle für Lilien-Frauen – näher beschrieben werden, fassen wir im folgenden Abschnitt kurz zusammen, was wir unter bestimmten Begrifflichkeiten verstehen und welche Beispiele im Bereich des Fußballs darunterfallen.

2. Sexismus und Fußball
Sexismus ist ein Anglizismus, abgeleitet von dem englischen Wort „sexism“. Dies führt in gewisser Hinsicht zu Missverständnissen, denn das englische Wort „sex“ meint nicht (ausschließlich) Geschlechtsverkehr oder Sexualität, sondern das (biologische) Geschlecht an sich, das zudem vom sozial zugeschriebenen Geschlecht („gender“) zu unterscheiden ist. In der deutschen Übersetzung kann dies jedoch irreführend sein, da der Eindruck entstehen kann, Sexismus meine eine auf Geschlechtsverkehr fokussierte Geisteshaltung bzw. der Begriff beschränke sich auf Diskriminierungen bzgl. der Sexualität. Sexismus verstehen wir daher als:
„[…] Bezeichnung für die wertende Annahme, dass sich Frauen von Männern auf Grund ihrer biologischen Unterschiede auch in ihrem Denken und Handeln unterscheiden und verschiedene geistige und seelische Eigenschaften besitzen. Sexismus bildet die ideologische Grundlage für die Diskriminierung und Unterdrückung des weiblichen durch das männliche Geschlecht.“ (Fußnote 3)
Aus sexistischen Grundannahmen und Erwartungen an Geschlechterrollen heraus können sexistische Äußerungen formuliert werden, die Menschen abwerten und/oder ausgrenzen. Sexualisierte Gewalt stellt in diesem Zusammenhang einen Akt der Aggression dar und nicht das Ausleben sexueller Triebe oder Bedürfnisse.
„Unter ’sexualisierter Gewalt‘ wird jede Art von Gewalt verstanden, die sich in sexuellen Übergriffen ausdrückt. Der Begriff ’sexualisierte Gewalt‘ macht deutlich, dass die sexuellen Handlungen als Mittel zum Zweck, also zur Ausübung von Macht und Gewalt, vorgenommen werden.“ (Fußnote 4)
Folglich umfasst sexualisierte Gewalt alle Formen sexuell gefärbter Verhaltensweisen, die die persönlichen Grenzen und Persönlichkeitsrechte einer anderen Person verletzen oder sie in ihrem Recht auf Selbstbestimmung einschränken. Dies hängt also von der individuellen Wahrnehmung des Opfers ab. Wie aus der oben genannten Definition bereits hervorgeht, liegt die Verantwortung für Handlungen sexualisierter Gewalt ausschließlich beim Täter.(Fußnote 5)
Sexuelle Belästigung verstehen wir ebenso als eine Form der sexualisierten Gewalt. Sie ist eine Grenzüberschreitung, die über verbale Äußerungen hinaus geht und die Persönlichkeitsrechte von Menschen einschränkt.

2.1 In welchen Erscheinungsformen tritt Sexismus beim Fußball auf?
Die Erscheinungsformen von Sexismus im Fußballkontext sind vielseitig. Es wird unterschieden zwischen offenem oder direktem Sexismus sowie unterschwelligen oder auch subtilen Formen des Sexismus. Außerdem ist zu differenzieren, von wem der Sexismus ausgeht. Felder, in denen sexistische Diskriminierungsformen im Fußball oftmals vorkommen, sind im Folgenden aufgeführt.

a) Offener/direkter Sexismus kann auftreten durch:
– Spruchbänder und (Zaun-)Fahnen
– Gesänge
– Werbung von Sponsoren oder den Vereinen selbst
– Sexistische Äußerungen, etwa der Stadionregie
– Verzicht auf die Erhebung von Eintrittspreisen für Frauen in manchen unteren Ligen („positive Diskriminierung“)
– Für Frauen geschlossene Fangruppierungen oder Stadionbereiche, wobei der Ausschluss auf wertenden Annahmen beruht
– Erniedrigende (bewusste oder unbewusste) Wortwahl in Bezug auf Weiblichkeit oder weibliche Geschlechtsmerkmale (z.B. das „F“-Wort oder „der spielt ja wie ein Mädchen“)

b) Unterschwelliger/subtiler Sexismus kann auftreten durch:
– Nicht-Ernstnehmen von Meinungen
– Kommentare („Wo ist denn Dein Freund?“, „Frauen haben keine Ahnung von Fußball“, „Weißt Du denn, was Abseits ist?“)

c) Formen sexualisierter Gewalt:
– Belästigender körperlicher Kontakt (z.B. Drängeln, Nicht-Ausweichen beim Vorbeigehen)
– Übergriff (Tätlichkeit mit sexuellem Hintergrund gegen den Willen des Opfers, z.B. Begrapschen oder versuchte Vergewaltigung)
– Vergewaltigung (Vollzug sexueller Handlungen gegen den Willen des Opfers – hier muss auch rechtlich mittlerweile keine unmittelbare Gegenwehr gegeben sein, ein „Nein“ genügt)

2.2 Warum sprechen so wenige Menschen über Sexismus beim Fußball?
Erfreulicherweise gibt es einige Organisationen, Netzwerke und Fangruppierungen, die sich schon seit Jahren mit dem Thema Sexismus beim Fußball auseinandersetzen. Weit verbreitet ist die Sensibilisierung bzgl. dieses Themas jedoch noch nicht. Sexismus ist – wie bereits oben erwähnt – ein gesamtgesellschaftliches Problem, dessen Wurzeln viel tiefer liegen. Der Fußball alleine bzw. ein kritischer Umgang mit Sexismus beim Fußball, wird es nicht lösen können, aber einen ersten Schritt in die richtige Richtung ermöglichen. Initiativen wie „LILY“ müssen der Anfang sein, zu einer Diversifizierung in allen Bereichen des Fußballs und der Gesellschaft zu gelangen (so ist etwa der Prozentsatz von weiblichen Führungspersonen im Fußball-Kontext bislang marginal).
Dass auch von institutioneller Seite ein Sexismus-Problem zu bestehen scheint, wird ebenfalls deutlich, wenn man den Umgang von DFB und Vereinen mit der Ächtung von sexistischer Diskriminierung betrachtet. 1994 forderte das Bündnis antifaschistischer Fußballfans (BAFF) beim 1. Fan-Kongress in Düsseldorf, der DFB solle in seine Mustervereinssatzung, die alle Fußballvereine bindend übernehmen müssen, einen Passus aufnehmen aus dem hervorgeht, dass neben rassistischer Diskriminierung auch sexistische Diskriminierung verboten sei. Diese Forderung erfuhr damals viel Gegenwind und wurde letztendlich zurückgezogen (Fußnote 6). Bis heute ist diese Passage nicht in die Mustervereinssatzung des DFB aufgenommen worden. Den Vereinen bleibt es selbst überlassen, welche Arten von Diskriminierung sie ausdrücklich verbieten wollen – oder eben nicht.

3. „LILY“ – Anlaufstelle für Lilien-Frauen
Der SV Darmstadt 1898 e.V. ist sich seiner Verantwortung bezüglich einer Willkommenskultur für alle Lilienfans – egal ob männlich, weiblich oder divers – bewusst und möchte aktiv zur Prävention beitragen, sensibilisieren und Hilfe bei sexistischen Vorkommnissen anbieten.

3.1 Zielsetzung
Die Ziele von „LILY“ können in zwei Bereiche unterteilt werden: Zum einen möchte „LILY“ Aufklärungsarbeit über sexistische Handlungsweisen beim Fußball leisten und dadurch deren Prävention unterstützen. Dies soll u.a. durch Vorträge, Informationsveranstaltungen, Workshops, Ausstellungen etc. für die Lilienfanszene und den Verein mit seinem gesamten Umfeld umgesetzt werden. Zum anderen will „LILY“ eine Erstanlaufstelle für Lilienfans anbieten, die im Fußballkontext von sexualisierter Gewalt in jedweder Form betroffen sind.
Aus den beiden Zielen – (a) Aufklärung/Prävention und (b) Anlaufstelle – ergeben sich weitere Handlungsfelder:

(a) Aufklärung/Prävention
– Aufklärungsarbeit über Sexismus und sexualisierte Gewalt im Fußball (z.B. Kampagnen/Workshops) für die Lilienfanszene
– Förderung insbesondere der weiblichen Fankultur am Böllenfalltor
– Aufbau eines Netzwerkes zum Informations- und Expertisenaustausch
– Sensibilisierung von Netzwerkpartnern des Vereins (z.B. Ordnungsdienst, Sponsoren etc.)
– Unterstützende Maßnahmen zum Abbau und zur Ächtung von Sexismus in der Gesellschaft insgesamt
– Untersuchung möglicher Vorfälle und deren Erfassung in einer datenschutzrechtlich konformen und anonymisierten Datenbank zur Reduktion der Dunkelziffer und zur Ableitung des tatsächlichen Handlungs- und Unterstützungsbedarfs

(b) Anlaufstelle
– Erstanlaufstelle für Betroffene nach Vorfällen und deren Erfassung (unter Berücksichtigung des Datenschutzgesetzes). Handlungsmaxime soll dabei immer sein, zuerst den Blick auf die Betroffene(n) zu richten und in ihrem Sinne zu handeln.
– Entwicklung eines Leitfadens zum Umgang mit Vorfällen und Anschuldigungen einerseits sowie mit den an einem möglichen Konflikt beteiligten Personen andererseits
– Kontaktaufnahme und Weiterleitung auf Wunsch von Betroffenen an jeweilige Fachkräfte zur psychosozialen Aufarbeitung
– Gegebenenfalls Begleitung weiterer Schritte auf Wunsch der Betroffenen

3.2 Umsetzung
Für eine erfolgreiche Umsetzung der Ziele müssen bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt werden. Eine Angliederung von „LILY“ an den Verein bzw. die Fan- und Förderabteilung (FuFa) des Vereins ist aus zweierlei Gründen vorteilhaft: Sie hat zum einen Wirkung nach außen, da die Thematik somit an Relevanz in der Vereinsarbeit für Fans und Fördernde gewinnt und die Auseinandersetzung damit als gesellschaftsrelevanter Faktor wahrgenommen wird. Zum anderen wirkt sie nach innen, da die Arbeit gegen sexualisierte Gewalt auch innerhalb des Vereins aktiv unterstützt wird.
Gleichzeitig eröffnet die Angliederung an Vereinsstrukturen auch Möglichkeiten für notwendige Unterstützungsleistungen für „LILY“. Dies betrifft strukturelle Unterstützung, wie die Bereitstellung von Räumen für Treffen und Veranstaltungen (z.B. Workshops) oder die Möglichkeit zur Informationsgewinnung. So soll z.B. auf der Homepage des Vereins auf „LILY“ aufmerksam gemacht werden. Ebenso soll die Erreichbarkeit für Betroffene über eine Vereins-eMail-Adresse und -Handynummer gewährleistet werden.
„LILY“ wird zunächst aus zwei „Hauptansprechpersonen“ bestehen, die ehrenamtlicher Teil des FuFa-Teams sind und die primären Ansprechpersonen darstellen sollen. In Zukunft sollen diese zwei Ansprechpersonen durch ein Team unterstützt werden, um eine umfänglichere Erreichbarkeit, eine bessere Vernetzung und eine Aufgabenteilung gewährleisten zu können. Da die physische Erreichbarkeit von „LILY“ zwar bei allen Heimspielen, aber nicht immer bei allen Auswärtsspielen des SV Darmstadt 1898 e.V. gewährleistet werden kann, wird „LILY“ vor allem bei sogenannten „Risikofahrten“ dabei sein. Hierunter werden Fahrten verstanden, bei denen die aktive Fanszene größtenteils gemeinsam z.B. in einem Sonderzug anreist. Perspektivisch wird jedoch angestrebt, bei allen Heim- und Auswärtsspielen telefonisch sowie physisch erreichbar zu sein.
Für jede abgelaufene Saison informiert „LILY“ über die Umsetzung der jeweiligen Meilensteine und ihre gesammelten Erfahrungen während des vergangenen Spieljahres auf der FuFa-Abteilungsversammlung und in Form eines Jahresberichts, der online veröffentlicht wird.

Fußnoten:
1.) siehe: https://www.swp.de/sport/fussball-lokal/kocher-rems/sexismus-im-fussball_-_die-mehrheit-erduldet-es-schweigend_-22984791.html
2.) siehe (mit Download-Möglichkeit der Studie): https://www.f-in.org/presse/ergebnisse-der-onlineumfrage/
3.) siehe: Meyers (2006): Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden. 10., neu bearb. u. erw. Aufl., Leipzig, Mannheim: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus
4.) siehe: https://www.hilfetelefon.de/gewalt-gegen-frauen/sexualisierte-gewalt.html
5.) siehe: Förster/Hoffmann/Schmiedgen/Zamzow (2007): Sexistische Diskriminierung und sexuelle Belästigung – Informationen und Gegenstrategien
6.) siehe: Bott (2008): Lernort Stadion: Sexismus Fußball und Politik. Gelnhausen: TRIGA Verlag

Darmstadt, im Juli 2019

1 Kommentar

  1. Wenn also in der Halbzeit Werbung läuft, in der eine Frau mit ihren Pobacken Nüsse knackt ist das nicht im Sinne des Vereins, richtig?

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