6. März 2008 – Die Hiobsbotschaft

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6. März 2008 – Die Hiobsbotschaft

Bereits in den kalten Dezembertagen des Jahres 2007 kursierte unter den Fans das Gerücht, dass gegen den Verein beim Finanzamt Darmstadt eine anonyme Strafanzeige wegen Steuerhinterziehung eingegangen sei. Jenes Gerücht entpuppte sich bereits wenige Tage später als bittere Wahrheit. Am 6. März 2008 war der Super-GAU dann da: Auf der Vereinshomepage und in den Medien wurde verkündet, dass die Lilien Antrag auf Insolvenz beim Darmstädter Amtsgericht stellen würden! Nur wenige Stunden nach Bekanntgabe der Hiobsbotschaft machten erste Vermutungen über die an das Finanzamt nachzuzahlende Summe die Runde: 1,1 Millionen Euro! Ein Betrag, der für einen Viertligisten aus eigener Kraft nicht zu stemmen sein würde.

Lagebesprechung in der Lilienschänke

Um die prekäre Situation zu erläutern, wurde für den Abend eine kurzfristige Informationsveranstaltung im Vereinslokal am Böllenfalltor, der „Lilienschänke“, einberufen, zu der sich ca. 100 Lilienfans einfanden. Alle Gesichter der Anwesenden waren gezeichnet. Teilweise hatten gestandene Mannsbilder gerötete Augen. Dazu gesellten sich auch der seit einem halben Jahr amtierende Lilien-Präsident Hans Kessler und der Sportliche Leiter des SV 98, Tom Eilers  unter das fragewütige Volk und schilderten die Situation von der anonymen Anzeige über den Insolvenzantrag bis zu den Zukunftsperspektiven. Vereinspräsident Hans Kessler, der bei seinem Amtsantritt nichts von der finanziellen Schieflage im Verein ahnte, gab klar zu verstehen, dass man sich den Altlasten als Verein stellen würde, den finanziellen Scherbenhaufen ab- und aufarbeiten wolle. Darmstadt brauche den höherklassigen Spitzenfußball. Der SV98 werde sich gegenüber den Behörden kooperativ zeigen, so dass man am Ende als Verein mit hoffentlich blütenweißer Weste einen Neuanfang wagen könne. Hans Kessler lehnte einen Neustart in unteren Klassen kategorisch ab und wollte zumindest nichts unversucht lassen, um die Eröffnung des Insolvenzverfahrens abzuwenden. Sicherlich wären bei Eröffnung des Verfahrens zwar alle Schulden getilgt, aber dieser Weg, wie ihn einige Jahre zuvor der KSV Hessen Kassel gewählt hatte, käme für ihn nicht in Frage. Tom Eilers erklärte im Anschluss an Kesslers Rede auf, wie sich die aufgetürmte Summe zusammensetzte. Hauptsächlich nicht abgeführte Lohnsteuer- und Sozialversicherungsbeiträge der vergangenen fünf Jahre ließen den Schuldenberg auf jene exorbitante Summe wachsen. Zudem würden den Verein noch Langzeitverpflichtungen und laufende Kosten belasten.

Der Fanverein – Mit-Organisator der Rettung

Die zunächst vorhandene Fassungslosigkeit unter den Fans wich einer „Jetzt-erst-recht“-Stimmung. Glücklicherweise bildete sich wenige Wochen vor Bekanntgabe der drohenden Zahlungsunfähigkeit der Lilien ein Dachverband aller Fanclubs des SV Darmstadt 98, der sogenannte „Fanverein“ (ausführlich in Kapitel VI.). Das siebenköpfige Leitungs-Gremium sollte die Fäden in der Hand halten, damit die Koordination von Unterstützungsaktionen möglichst gebündelt verlaufen sollte. Erste Ideen wie eine Benefiz-Musiknacht zugunsten der Lilien, die sich quer durch alle Kneipen der Stadt ziehen sollte, T-Shirts oder ein Sternmarsch, der die Bevölkerung auf die finanzielle Schieflage der Lilien aufmerksam machen sollte, wurden notiert.

Solidaritäts- und Rettungsaktionen

Eine erste organisierte Solidaritätswelle erfasste die Stadt vor dem Oberliga-Heimspiel am 15. März 2008 gegen Germania Ober-Roden. Der Sternmarsch der 98er-Fans von der Stadtmitte bis zum Stadion unter dem Motto „1898 Schritte für den SVD – Wir stimmen mit den Füßen für die Lilien!“ setzte mit 800 Anhängern ein Zeichen quer durch Darmstadt. Als erste Soforthilfemaßnahme wurden neben selbstgefertigten Buttons auch T-Shirts mit dem Aufdruck „Die Lilien bleiben DA“ für zehn Euro verkauft. Im Stadion durfte sich insbesondere der zum Insolvenzverwalter bestellte Dr. Jan Markus Plathner über die Saisonrekordkulisse von 5.200 zahlenden Zuschauern freuen – der Zuschauerschnitt in Heimspielen belief sich ansonsten auf die Hälfte. Ein erster Geldregen prasselte auf den SV 98 nieder und das 2:2 (Tore: Hübner und Glasner) schien an jenem Tag nur die wenigsten zu stören. Auch wenn der SVD sportlich gesehen zwei Pluspunkte einbüßte, rangierte er doch weiterhin nach 24 Spieltagen souverän auf dem ersten Tabellenplatz und visierte zielstrebig den „Klassenerhalts-Aufstieg“ in die Regionalliga Süd an. Zwei Dinge waren an jenem Tag gegen Ober-Roden bemerkenswert: Zum einen die Tatsache, dass der langjährige Hauptsponsor Wella seinen Platz auf der Brust mit sofortiger Wirkung nach Bekanntgabe der drohenden Insolvenz zur Verfügung stellte und somit kurzfristig Entega als Sponsor auf dem Trikot seinen Platz fand. Der orangefarbene Sponsorenaufdruck wurde mit dem kurz zuvor ausgegebenen Rettungsmotto, dass die „Lilien DA bleiben“ würden und dem Vereinslogo versehen, so dass dieses blaue Jersey ein Unikat in der Geschichte des SVD darstellt. Zum anderen berichtete der Hessische Rundfunk zwei Stunden nach dem Abpfiff über das Oberligaspiel in seiner samstäglichen Sportsendung live mit seinem Moderator aus dem Stadion am Böllenfalltor. Im Bildhintergrund skandierte ein proppenvoller F-Block in die Fernsehkameras unüberhörbar für die TV-Zuschauer: „Darmstadt ohne Fußball ist scheiße!“ und „Auf geht’s Darmstadt, rettet die Lilien!“

Der Blick auf das Spendenkonto war in den darauffolgenden Monaten fast wichtiger, wie der Blick auf die Tabelle. Durch den Zusammenhalt untereinander, das Anpacken aller, konnte am Ende die Insolvenz abgewendet werden.

Das Buch „Das Wunder von Darmstadt“ blickt auf diese Zeit sowie die nachfolgenden Jahre bis zum Aufstieg in die 1. Bundesliga zurück und ist im Fanshop erhältlich.