Vortragsabend: „Deutsch-deutsche Fußball-Begegnungen“ – Wie Jörg Berger die Flucht in den Westen gelang

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von links: Jürgen Pforr, Hans Richter, René Wiese, Uwe Kuhl, Sebastian Bona (Initiative 1903)

„Auf unserer Freundschaftsspiel-Reise nach Bischofswerda hatte jeder Spieler 100 Ost-Mark als Gastgeschenk erhalten – etwa ein Viertel des Monatsgehaltes eines Arbeiters. Aber wir hatten gar keine Möglichkeit, das auszugeben. Ich habe Postkarten für vielleicht 2,50 Mark gekauft. Als wir am Morgen unserer Abfahrt überlegten, was wir mit dem Geld machen sollten, standen die Kinder der Bediensteten unserer Unterkunft vor dem Bus und wollten noch Autogramme haben. Wir wollten ihnen das Geld geben, aber sie sagten nur: „Wenn wir das nehmen, bekommen wir riesigen Ärger.“ Also haben wir mit einer der Bediensteten gesprochen und darum gebeten, das Geld anzunehmen und für die Kinder auf Sparbücher einzuzahlen. Erwachsene und Kinder hatten Tränen in den Augen.“

So berichtete Uwe Kuhl gestern beim Vortragsabend „Fußball als einigendes Band?“ über seine Erlebnisse beim Spiel des „deutsch-deutschen Sportkalenders“ in Bischofswerda im Jahr 1986. „Auch wenn das Spiel sportlich nicht besonders war, so war doch das Drumherum so eindrücklich, dass ich es nicht mehr vergessen werde.“ Kuhl berichtete unter anderem vom Bankett, bei dem Funktionäre politisierten, Kontakte zu den gegnerischen Spielen waren auf ein Minimum beschränkt.

Die Fan- und Förderabteilung des SV 98 hatte in Zusammenarbeit mit dem Fanprojekt und den Vereinsschreibern Jürgen Koch und Thomas Spengler zu diesem Abend eingeladen, unterstützt von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung und der Initiative 1903. 30 Jahre nach dem Mauerfall war das bevorstehende Spiel gegen Erzgebirge Aue ein passender Anlass, über die Geschichte der beiden Vereine in der Zeit des geteilten Deutschlands zu informieren. René Wiese, Historiker vom Zentrum deutsche Sportgeschichte Berlin führte im ersten Teil des Abends in einer Präsentation durch die Geschichte der deutsch-deutschen Sportbeziehungen und setzte dabei einen Schwerpunkt auf die Entwicklung in Aue – eine Geschichte aus finanziell gut ausgestatteter Betriebssportgemeinschaft „Wismut“, dann eine Umwandlung in einen noch stärker unterstützten „Sportclub“, dann die Fusion mit der Bezirkshauptstadt Karl-Marx-Stadt, später eine Neugründung wieder als BSG. Es war ein tiefer Einblick in Politik und Versuche ideologischer Vereinnahmung in dieser Zeit. Und gerade in Aue war schon seit Gründung der Fußball-Mannschaft die Identifikation der Arbeiter im Bergbau dieser ganzen Region mit „Wismut“ hoch, sie ist es noch heute.

Auch auf Seiten der Lilien wurden die deutsch-deutschen Beziehungen beleuchtet. Jörg Berger war nach dem ersten Abstieg aus der Bundesliga in der Saison 1979/80 Trainer am Böllenfalltor. Über die Umstände seiner Flucht berichtete Jürgen Pforr, ehemaliger Co-Trainer bei den Lilien und einer der wenigen Freunde des Coaches, sehr eindrücklich: „Er hat die Möglichkeit zur Flucht bei einem Nachwuchsturnier in Jugoslawien genutzt. Ein Training hatte er recht spät abends angesetzt und während der Einheit ein paar Bälle in den hinter dem Tor liegenden Wald gedroschen. Seine Spieler hatte er dann am Ende in die Kabine geschickt und wollte noch schnell die Bälle holen. Auf der anderen Seite des Wäldchens wartete jemand, der ihn in die westdeutsche Botschaft brachte, getarnt als Bäcker, der die Brötchen bringt. Dort bekam er dann druckfrische Papiere und es ging mit dem Zug nach Österreich.“ Ein Grenzbeamter scheint ihn dabei sogar erkannt, aber nicht verraten zu haben. Berger war während der Zeit bis zum Mauerfall immer auf der Hut und vermutete Beobachtung. Jürgen Pforr fuhr ihn mehrmals nach Köln zur Sporthochschule, damit Berger nicht alleine im Auto saß und ihm nicht „zufällig“ etwas geschehen konnte. Das Erschreckende: Nach Einsicht in seine Stasi-Akte Mitte der 90er-Jahre bestätigten sich seine Vermutungen in großen Teilen.

Direkt aus eigener Erfahrung konnte Ex-DDR-Nationalspieler Hans Richter berichten, der im Oktober 1989 über die Prager Botschaft floh. Als Sportler wäre es ihm in der DDR gut gegangen, aber bei Europapokal-Spielen im westlichen Ausland konnte es schon vorkommen, dass Anrufe auf dem Hotelzimmer kamen, ob man sich nicht mit einem westlichen Funktionär treffen wolle. Testanrufe von Mitarbeitern der Stasi, um die Bereitschaft zur „Republikflucht“ zu prüfen? Nach der Flucht mit seiner Mutter fasste er – vermittelt von Willi Lemke – Fuß bei einem uns bekannten Ost-Frankfurter Verein mit rot-weißen Farben, der von demselben Sponsor unterstützt wurde wie Werder Bremen. Auch wenn seine sportliche Karriere nicht mehr auf dem höchsten Niveau verlief, bereut er seine Flucht nicht: „Hier ist man frei zu sagen, was man denkt. Jeder kann studieren gehen, es spielt keine Rolle, ob die Eltern einen dunklen Fleck in ihrer Biographie haben.“

Viele weitere Geschichten und Hintergründe wussten die Teilnehmer auf dem Podium noch zu berichten. Erst nach zweieinhalb Stunden hatten die zahlreich fragenden Gäste ihren Wissensdurst erschöpft. Ein rundum gelungener Abend, der vielleicht der Auftakt war zu weiteren Veranstaltungen dieser Art.

Autor: Markus

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