Am Freitag, dem 12. Mai, gab es im Darmstädter Fanprojekt ein spannendes und humorvolles Zeitzeugengespräch. Die Vereinsschreiber des SV 98, Thomas Spengler und Jürgen Koch, bieten in Zusammenarbeit mit dem Fanprojekt den Fans, Mitgliedern und allen Interessierten in loser Folge Informations- und Gesprächsabende mit Zeitzeugen verschiedener Epochen an. Im Mittelpunkt steht die Geschichte des SV Darmstadt 98, aber auch die historische Entwicklung der Stadt Darmstadt. Die beiden Vereinsschreiber legen Wert darauf, dass diese Veranstaltungen im Dialog mit dem Publikum stattfinden und die Zeitzeugen offen für die Fragen sind.
Der 97-jährige Kurt Kretzschmar und der nur 18 Jahre jüngere Peter Schmidt berichteten knapp zwei Stunden lang eindrücklich aus ihren Leben, eng verknüpft mit ihren sportlichen Aktivitäten beim SV Darmstadt 98.
Der SV Darmstadt 98 e.V. entstand 1919 aus einer Fusion der beiden Darmstädter Vereine FK Olympia 1898 und Darmstädter SC 1905. Schon im darauf folgenden Jahr wurde Kurt Kretzschmar geboren. Sein Vater war Mitglied im Darmstädter SC 1905 und Gründungsmitglied des neu gegründeten SV Darmstadt 98. Im Alter von 13 Jahren wurde auch der junge Kurt Mitglied und feierte erste Erfolge in der Leichtathletik-Abteilung. Später war er in nahezu jeder sportlichen Abteilung aktiv und Mitglied im Ältestenrat.
Peter Schmidt wurde 1938 in Darmstadt geboren. Durch die Brandnacht am 11. September 1944 wurden er und seine Familie obdachlos. Nach einer kurzzeitigen Evakuierung ins Erzgebirge kam die Familie nach Darmstadt zurück, und so wuchs er in der Nachkriegszeit in den Baracken des Tennis-Clubs direkt am Bölle auf. Von 1945 an war das Stadion am Böllenfalltor von den Amerikanern beschlagnahmt. Die Mannschaft der „Hornets“ spielte hier Baseball, Peter Schmidt erzählte in lebhaften Berichten, wie die Kinder am Stadion Kontakt mit den Amerikanern hatten, die Zigarettenkippen sammelten und die Tabakreste weiter verkauften. Auch die alten, abgeschlagenen Baseball-Bälle waren wertvoll, enthielten sie doch Wolle, die noch zum Stricken verwendet werden konnte. Erst ab 1950 konnten die Lilien wieder am Bölle trainieren, in diesem Jahr trat Peter Schmidt dem Verein bei. Er gehört heute dem Ältestenrat an.
Im Fokus des Abends sollte Darmstadt und vor allem der SV 98 während des Nationalsozialismus stehen. Kurt Kretzschmar wurde 1933 Mitglied bei den Lilien und nahm den Ausschluss der jüdischen Mitglieder und Sportler nicht so wahr, was sicherlich zum einen an seinem jugendlichen Alter und zum anderen daran gelegen haben mag, dass schon bis Mitte 1933 die aktiven jüdischen Sportler gezwungen wurden, nur noch in bereits bestehenden oder neu gegründeten rein jüdischen Sportvereinen ihrem Hobby nachgehen zu können. In Darmstadt war das der FK Schild. Außerdem verbrachte er die Kriegsjahre und die ersten Nachkriegsjahre nicht in Darmstadt, nachdem er 1938 in die Wehrmacht einberufen wurde und sich freiwillig zur Marine meldete, um dem Arbeitsdienst zu entgehen und weiterhin Sport treiben zu können. Schließlich geriet er 1944 in Kriegsgefangenschaft, die er in Ägypten im Arbeitsdienst verbrachte. Dort spielte er Handball in einer Gefangenen-Mannschaft, die gegen andere Gefangenen-Mannschaften in Turnieren antrat. Er kehrte erst 1948 nach Darmstadt zurück. Auf die Frage, wie er die Olympischen Spiele von 1936 erlebte, schmunzelte er: „Da war ich nicht im Stadion, das habe ich genauso verfolgt wie Ihr.“
Nachdem der Großvater im 1. Weltkrieg fiel und der Vater 1940 in Russland, wuchs Peter Schmidt nur mit der Mutter und den Geschwistern auf. Beide Zeitzeugen waren sich einig, dass deshalb die Trainer und Betreuer im Sportverein zum Vater-Ersatz und zu Bezugspersonen wurden.
Als Peter Schmidt 1944 eingeschult wurde, hatte er bereits gelernt, dass man keine unangemessenen Fragen stellte, vor allem nicht nach Juden. Seine Mutter, die im jüdischen Kaufhaus Rothschild (heute Henschel am Marktplatz) arbeitete, war bereits zwei Jahre zuvor darauf hingewiesen worden, dass ihr Sohn wie alle Kinder lernen solle, Juden an ihrem gelben Stern zu erkennen und diese entsprechend nicht auf der Straße zu grüßen.
Zur Sprache kam auch die Stadionthematik; liegt doch der Ursprung des aktuell am stärksten im medialen Fokus stehenden Themas, nämlich der geforderten Überdachung der Gegengerade, in der Zeit des Wiederaufbaus des Stadions 1951. Damals wurde das gesamte Gelände mit Kriegsschutt aufgefüllt, so dass eine Tribüne und ein Dach aus statischen Gründen heute nicht so einfach errichtet werden können.
Die Fan- und Förderabteilung hofft, in Kürze eine Aufnahme dieses Abends auf der Homepage zum Nachhören anbieten zu können. Zwei weitere Zeitzeugen-Abende, die wiederum vom Vereinsarchiv in Kooperation mit dem Fanprojekt organisiert werden, sind in Vorbereitung. Sobald Termine feststehen, wird die FuFa darüber informieren.
Autorin: Jana Otto