Auch vor dem ersten Spiel ohne Publikum am heimischen Böllenfalltor lassen wir einen Fanvertreter unseres Gegners zu Wort kommen. René Born von der Abteilung Fördernde Mitglieder im FC St. Pauli stand uns Rede und Antwort und spricht dabei über seine Wahrnehmung des ersten Geisterspieltags letzte Woche, die erhofften Reformen im Profifußball und über seine eigenen Erlebnisse an unserem Bölle.
Hallo René, vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für ein Interview nimmst! Du bist stellvertretender Abteilungsleiter der „Abteilung Fördernde Mitglieder“ im FC St. Pauli. Seit wann gibt es die Abteilung, wie viele Mitglieder habt Ihr und was sind Eure Hauptaufgaben?
René Born: Moin! Die Abteilung Fördernde Mitglieder (kurz AFM) besteht mittlerweile seit 20 Jahren. Bis zur Gründung der AFM gingen die Beiträge der Mitglieder, die keiner Sport treibenden Abteilung angehörten, direkt an den Verein. Niemand wusste, was genau mit diesen Geldern passierte. In den 1990er Jahren hatte sich bereits eine sehr aktive Fanszene entwickelt, die sich mehr und mehr für Vereinspolitik interessierte und die vorherrschenden Strukturen massiv hinterfragte. Auf der Jahreshauptversammlung 1997 verabschiedeten die Mitglieder eine neue Vereinssatzung, die in wesentlichen Punkten – wie etwa der Existenz eines Aufsichtsrates bei gleichzeitiger Beibehaltung der Mitgliederversammlung als höchstem Vereinsorgan – bis heute gültig ist. 1999 konnte dann die erforderliche Mehrheit zur Gründung einer neuen Vereinsabteilung mit dem Ziel der Förderung der Jugendabteilungen erreicht werden. Die AFM war geboren.
Mittlerweile sind neben der Förderung der Nachwuchsarbeit auch die Unterstützung von Fan- und Vereinskultur sowie inklusiver Maßnahmen als zentrale Abteilungszwecke festgelegt. Der mit Abstand größte Anteil fließt in die Unterstützung unseres Nachwuchsleistungszentrums, wobei hier ein besonderes Augenmerk auf die ganzheitliche Ausbildung unseres Nachwuchses gelegt wird. So finanzieren wir neben dem Betrieb zweier Jugendtalenthäuser, in denen junge Talente des NLZ wohnen und pädagogisch betreut werden, auch viel in den Bereichen Sportpsychologie, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Im Bereich Fan- und Vereinskultur unterstützen wir infrastrukturelle Maßnahmen und verschiedene Projekte aus der Fanszene sowie unser Vereinsmuseum.
Da die Abteilung mittlerweile über 16.000 Mitglieder hat, fließen aktuell somit mehr als 1 Mio. € pro Jahr aus unseren Mitgliedsbeiträgen in konkrete Projekte und Maßnahmen in diesen Bereichen. Die Mitglieder entscheiden bei uns autonom über die Verwendung ihrer Abteilungsmittel.
Letztes Wochenende habt Ihr die „Geisterspiele“ mit einem Heimspiel gegen den 1. FC Nürnberg begonnen. Hast Du das Spiel verfolgt und wie werden die Spiele ohne Publikum bei Euch allgemein gesehen?
Ja, ich habe das Spiel im Fernsehen verfolgt. Es ist schon eine groteske Situation, vom Sofa in sein leeres Stadion schauen zu müssen. Es wird deutlicher denn je, wie abhängig der Profifußball von den Einnahmen der TV-Gelder ist und welche fragwürdigen Geschäftsmodelle sich rund um diese Gelder entwickelt haben. Diese existenzielle und einseitige Abhängigkeit spiegelt sich auch in der Diskussion um die Aufnahme des Spielbetriebes wider. Argumente gegen Geisterspiele, wie die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, die in der Vergangenheit immer wieder von der DFL gepredigt wurde, sowie die unnötige Auslastung von Testkapazitäten, finden keinen Anklang. Sie spielen auch keine Rolle, da die Bundesliga gar keine andere Wahl hat, als die Saison über die Bühne zu bringen, um irgendein Endergebnis zu erzielen. Interessen von Fans, Spielern und einem unverzerrten Wettbewerb treten zwangsläufig zurück und der Fokus liegt im Wesentlichen allein darauf, die Abhängigkeit gegenüber den Fernsehsendern und sonstigen Vermarktern zu bedienen.
In wie weit wart Ihr in die „Ausgestaltung“ der Geisterspiele am Millerntor mit einbezogen?
Die Fanszene wurde frühzeitig gefragt, welche Pläne es hinsichtlich der kommenden Geisterspiele gibt. Sehr schnell wurde deutlich, dass außer einer zentralen kritischen Äußerung („Fußball lebt durch seine Fans, Reformen jetzt“) keine weiteren optischen und akustischen Aktionen stattfinden sollen. Allen soll bewusst sein, dass es ohne Fans in den Stadien trist und grau ist – auch am Millerntor.
Viele Fanszenen haben mit kreativen Ideen sehr sensibel reagiert und lokale Hilfsangebote gemacht. Erzähl uns doch, wie das bei Euch abgelaufen ist.
Für Verein und Fanszene sind soziale Verantwortung seit jeher ein sehr wichtiger Teil des Vereinslebens. St. Pauli ist abseits der Touristenmeilen immer noch ein benachteiligter Stadtteil und sieht sich mit diversen sozialen Problemen konfrontiert. Im Verein gibt es dafür seit geraumer Zeit eine eigene Abteilung für Corporate Social Responsibility (CSR), die die Aktivitäten dahingehend organisiert, koordiniert und verschiedene Interessengruppen vernetzt. In der momentanen Lage wurde dies unter dem Hashtag #stpaulisolidarisch gebündelt. So konnte man virtuell Pfandbecher spenden, es wurden Einkaufshilfen für Menschen im Stadtteil organisiert, Kleidung und Hygieneartikel für bedürftige Menschen gespendet und knapp 2.500 Osterpakete für Menschen mit Beeinträchtigungen, die über die Ostertage keinen Besuch empfangen konnten, gepackt und ausgeliefert. Um obdachlosen Personen auch (und gerade) in Zeiten der Corona-Krise die Möglichkeit auf eine Dusche zu geben, unterstützte der FC St. Pauli personell und logistisch einen Not-Duschbetrieb auf dem Stadionvorplatz. Bei vielen dieser Aktionen sind verschiedene Fangruppierungen sehr aktiv und engagiert, allen voran Ultrà Sankt Pauli. Hier gilt aber eher die Devise „machen und nicht so viel darüber reden“.
Es wird gerade viel vom Reformbedarf des Profifußballs gesprochen. Was sind für Dich die wesentlichen Punkte, die angegangen werden müssten?
Es ist wohl allen klar geworden, dass die jetzige Struktur dringend reformiert werden muss. Zum einen müssen die Geschäftsmodelle der einzelnen Vereine hinterfragt und reguliert werden, dazu bedarf die Vergabe der TV-Gelder einer neuen und solidarischeren Struktur. Die Oberpunkte „fairer Wettbewerb“ und „nachhaltiges, solides Wirtschaften“ müssen mit konkreten Alternativen und verbindlichen Regularien hinterlegt und unterfüttert werden. Hierzu gibt es – wie in vielen anderen Fanszenen und -institutionen – auch beim FC St. Pauli bereits erste konkrete Planungen.
Daneben müssen sich DFL und Vereine darauf verständigen, welchem Wertekanon sie zukünftig verbindlich folgen wollen. Diese Reformen müssen jetzt auf den Weg gebracht werden, nicht nur, dass aktuell wohl die meisten Vereine offen sind für solche Reformen, ebenso laufen nach der Saison 2020/21 die laufenden Verträge mit den TV-Anbietern und Streamingdiensten aus und werden somit neu verhandelt.
Mit Oke Göttlich entsendet ja auch Ihr – wie wir mit Rüdiger Fritsch – einen Vertreter in das DFL-Präsidium. Gibt es zu solchen Themen mit Eurem Präsidium einen Austausch?
Allgemein funktioniert der interne Austausch zwischen Präsidium und Aufsichtsrat und den entsprechenden Fangremien sehr gut, wir sind hier in einem ständigen Diskurs über alle relevanten Themen. Die Vereinsverantwortlichen agieren hier nach innen sehr transparent und vertrauensvoll. Wir sind da natürlich nicht immer einer Meinung und hauen uns auch mal die Köpfe ein, aber schnelle Kommunikation und kurze Wege sind eigentlich immer gegeben.
Schauen wir auf den Sport: Den „Glubb“ habt Ihr in Überzahl am Ende niedergerungen. Wie bewertest Du Euren Re-Start?
In der ersten Halbzeit hat uns Nürnberg vor einige Probleme gestellt. Vor allem bei Standards und aus dem zentralen Mittelfeld mit Geis und Nürnberger waren sie gefährlich. Der Platzverweis gegen Mathenia hat uns dann in die Karten gespielt, danach hatten wir das Spiel doch wesentlich besser im Griff. Generell tut sich der FC St. Pauli nach längeren Pausen oft schwer, von daher bin ich natürlich zufrieden.
Vor Corona hatte der FCSP auswärts eher eine Durststrecke – das Stadtderby hat Euch dann den ersten Dreier beschert. Entschädigung für die anderen Auswärtsfahrten?
Ein Derby ist ein Derby, diese Spiele sind immer irgendwie außer der Reihe. Die Stadtmeisterschaft hat schon eine spezielle emotionale Bedeutung. Und immerhin haben wir beim HSV seit 2001/02 nicht mehr verloren, da gibt es also eine gewisse Konstanz… 🙂 Generell ist mir unsere Auswärtsbilanz allerdings ein Rätsel. Wir waren oft dicht dran und ich bin an sich optimistisch, dass es bald wieder einen Auswärtssieg zu feiern gibt.
Am Böllenfalltor habt Ihr Euch in den letzten Jahren schwer getan. Zufall oder siehst Du Gründe? Jede Serie reißt ja auch mal…
Schwer getan ist noch freundlich formuliert. Wir haben ja auch zu Hause fast immer gegen Euch verloren, selbst wenn wir wie im Hinspiel eigentlich besser gespielt haben. Ich kann mich an ein Spiel vor drei Jahren im alten Böllenfalltor erinnern, da hat es pünktlich zum Anpfiff in Strömen geregnet, wir haben einen Elfer verschossen und natürlich 0:3 verloren. Aber das alte Böllenfalltor mit seiner großen Stehplatz-Gegengeraden gibt’s ja so nicht mehr, insofern wäre es ein guter Zeitpunkt, den Spieß mal umzudrehen.
Besonders heiß war ja das Duell am letzten Spieltag der Saison 2014/15. Mit dem 1:0-Heimsieg schafften wir den Durchmarsch in die Bundesliga. Ihr konntet dennoch den Klassenerhalt feiern. Warst Du damals im Stadion und wie hast Du das erlebt?
Nein, ich konnte damals nicht mitfahren und hatte auch immer ein Auge auf das Spiel der Auer in Heidenheim. Gefühlt bin ich um 10 Jahre gealtert und war nach Spielende extrem erleichtert. Über Euren Durchmarsch habe mich aber auch ein bisschen gefreut.
Stammspieler Mats Möller Daehli ist in der Winterpause nach Belgien gewechselt. Wie siehst Du den Transfer und wie habt Ihr ihn bislang kompensiert?
Mats war bei uns außerordentlich beliebt und ein toller Spieler. Für mich war er zentral offensiv bis dahin einer der besten Spieler der 2. Bundesliga. So ein Weggang schmerzt natürlich immer sehr. Aber alle Beteiligten sind hier fair miteinander umgegangen und solche Transfers gehören zum Fußball dazu. Wir hätten ja auch mal aufsteigen können, dann wäre er vielleicht geblieben… Wir haben einen recht großen Kader und nach seinem Wechsel hat Waldi Sobota die Position recht gut besetzt. Er ist aber doch ein anderer Spielertyp. Daneben haben wir dort noch Rico Benatelli und etwas defensiver den jungen Finn Ole Becker, von dem ich sehr viel halte.
Du weißt, dass Daniel Buballas Bruder Freddy bei uns auf der Geschäftsstelle arbeitet…? 😉
Nein, das wusste ich nicht. Hat er auch so lange Haare? 😉 Daniel hat sich ja bei uns mittlerweile zu einem absoluten Stammspieler und einer Führungspersönlichkeit entwickelt. Ein bodenständiger Typ, sehr sympathisch.
Wo und wie wirst Du das Spiel verfolgen?
Im Gästeblock und ich freue mich vorher auf ein Bier mit Euch… Schön wär’s…
Danke, René, für das Interview!