Heute beginnt unser Bericht vom Heidenheim-Spiel bereits vier Wochen zuvor. Es ist die Geschichte von Tobias:
Tobias hatte sich lange auf das Heimspiel gegen Osnabrück gefreut. Das erste Mal auf der neuen Gegengerade mit Dach im Oberrang zu sitzen und das Spiel seiner Lilien aus einer so schönen Perspektive zu gucken, das waren doch herrliche Aussichten. Zwar hatte er die alte Stehgerade, auf die ihn sein Vater schon als Kind mitgenommen hatte, geliebt und – so oft es eben ging – war er auch später hier mit Familie oder Freunden hergekommen, um die Lilien zu sehen. Unglaublich viele emotionale Erinnerungen verband er mit diesem Ort und so war die Vorfreude auf diese Premiere der fertigen neuen Gegengerade eben doch sehr groß. Die Situation mit den unfertigen Stehplatz-Bereichen in der Hinrunde hatte er überhaupt nicht genießen können. Nachdem sich Tobias wie immer mit Schal und Mütze auf den Weg gemacht hatte, seinen Kumpel Torsten abgeholt hatte und die beiden erstmal die Stufen hoch auf die neue Tribüne stiegen, war das schon ein schöner Gänsehaut-Moment. Alles passte, die Atmosphäre war gut, das Spiel der Lilien spannend und sogar die Bierversorgung hinter der Tribüne klappte ziemlich gut für Darmstädter Verhältnisse. Es hätte eine perfekte Premiere für Tobias werden können…
Diese endete jäh, als sechs Reihen hinter ihm ein Lilienfan begann, sich über das Spiel lautstark zu echauffieren. „Ihr schwulen Drecks-Osnabrücker! Lila tragen eh nur Schwuchteln! Bleibt doch gleich liegen, Ihr Scheiß-Homos!!!“ Der Mann war außer sich über eine Szene auf dem Rasen gewesen und pöbelte lautstark und deutlich in Richtung der Gäste. Während kaum jemand auf der Tribüne Notiz davon nahm, war Tobias ganz ruhig geworden. Auch wenn sich die Beleidigungen nicht gegen ihn richteten, war er als offen homosexuell lebender Mann erneut in der Situation, sich am Bölle doch nicht ganz so zu Hause zu fühlen, wie er das eigentlich immer dachte. Solche Pöbeleien kamen relativ regelmäßig vor, und bis heute hatte Tobias kaum eine richtige Strategie für den Umgang damit gefunden. Sich entschieden gegen den Pöbler zur Wehr setzen? Das hatte er vor ein paar Jahren schon mal getan und war daraufhin von einer ganzen Gruppe von Leuten homophob herabgewürdigt worden. Seitdem fiel es im zunehmend schwer sich offen zu positionieren, wenn er nicht auch von Menschen umgeben war, die sich sicher mit ihm solidarisieren würden. Und Torsten wollte er da jetzt auch nicht mir rein ziehen. Also blieb ihm nur das Geschrei hinter ihm zu ignorieren, doch mit jedem dämlichen Spruch gegen die „schwulen Osnabrücker“ brodelte es weiter in Tobias und sich auf das Spiel zu konzentrieren fiel ihm zunehmend schwerer. Er mochte den VfL Osnabrück auch nicht besonders, aber warum musste dieser Trottel hinter ihm die jetzt ständig als „schwul“ bezeichnen? Nur wegen deren lila Trikots? Gab es nicht 1000 andere, nicht diskriminierende Beleidigungen? Er ging erstmal raus und holte sich und Torsten noch ein Bier, um sich zu beruhigen…
Nach dem Spiel philosophierten noch einige Lilienfans über das Ergebnis und das 2:2 in Überzahl. Auch Torsten war noch total beim Spiel, während Tobias nicht richtig mitreden konnte. In der spannenden Phase der Partie hatte er sich mehr mit den homophoben Pöbeleien als mit den Spielsituationen beschäftigen können. Irgendwie hatte ihm dieser Typ jetzt tatsächlich diesen lang herbei gesehnten Tag versaut.
Gegen Sandhausen hatte Tobias zwar Zeit ins Stadion zu gehen, aber schlichtweg keinen Bock. Torsten stichelte ihn: „Na, komm schon, die Jungs haben doch in Dresden gewonnen. Jetzt noch ein Sieg und wir sind erstmal aus dem Gröbsten raus!“ Klar hatte Tobias Lust hinzugehen. Das Lilienfieber hatte er schließlich von klein auf eingeimpft bekommen, hatte selbst Fußball gespielt und war bei allen großen Spielen der letzten Jahre dabei gewesen. Sollte er sich jetzt wirklich von ein paar Leuten seine Bölle-Besuche vermiesen lassen? Das war doch schließlich auch sein Verein… Aber nur mit Torsten hatte er keine Lust wieder irgendwelche Sachen über sich ergehen zu lassen. Wenn sie mit größeren Freundesgruppen unterwegs sind, ließen sich solche Sachen einfach immer besser aushalten. Also sagte er schlussendlich ab und verbrachte den Sonntag stattdessen mit seinem Freund, der dieses ganze „Fußball-Ding“ sowieso nie richtig nachvollziehen konnte.
Die Lilien gewannen nicht nur gegen Sandhausen, sondern auch noch in Nürnberg, und für Tobias stand fest, dass nichts und niemand ihn davon abhalten konnte gegen Heidenheim ins Stadion zu gehen. Gerade die Trainer-Geschichte unter der Woche hatte für viel Wirbel gesorgt, weshalb es Tobias tunlichst vermied sich auf Social Media aufzuhalten. Solche Diskussionen waren immer wieder gefüllt mit diskriminierenden Beiträgen und Kommentaren, die er gerade wirklich nicht gebrauchen konnte. Er verzichtete also darauf sich im Vorfeld über irgendwelche Dinge zum Spiel zu informieren und traf sich mit Torsten und zwei weiteren Freunden samstags an ihrem Stammkiosk, um noch ein Bier zu trinken. Danach fuhren sie mit der Straßenbahn in Richtung Bölle und diskutierten angeregt um die aktuelle Situation beim Sportverein. Kurz vor der Haltestelle „Stadion“ sah Tobias nochmal aus dem Fenster der Straßenbahn. Er liebte es, wenn die alten Flutlichter langsam auftauchten und auf ihn zukamen. Wie bei allen Heinern stellte sich dann doch auch jedes Mal irgendwie bei ihm dieses Gefühl von „Daheim sein“ ein. Er konnte dabei schon den Parkplatz sehen, als ihm auffiel, dass heute an den Fahnenmasten statt den blau-weißen Vereinsfahnen Regenbogen-Flaggen gehisst waren. Ungläubig fragte er Torsten und die Jungs danach, aber die wussten auch nichts Genaues. Tobias war etwas verwirrt, aber natürlich sehr interessiert, was es damit auf sich hatte. Im Stadion holte er sich direkt den Lilienkurier, um gleich nachzulesen, was der Hintergrund der Fahnen am Parkplatz war.
Auf dem Weg zur Gegengerade sah er dann aber schon einen Stand des Vereins Vielbunt e.V., den er natürlich kannte. Die engagierten sich seit einigen Jahren sehr stark für die queere Community in Darmstadt und Tobias war auch schon auf einigen Veranstaltungen dabei gewesen. Den Stand des Vereins hier zu sehen tat nun unglaublich gut und Tobias kam mit Alex Arnold ins Gespräch, der ihm den Hintergrund zum blau-weiß-bunten Aktionsspieltag der Lilien gegen Homophobie und Diskriminierung erklärte. „Echt jetzt? Das ist ja ein Zufall, ich hatte gerade erst neulich einen Zwischenfall, wegen dem ich mich tierisch aufgeregt habe…“, meinte Tobias und erzählte Alex von der Situation gegen Osnabrück. „Wenn sowas ist, kannst du mich jederzeit ansprechen oder kontaktieren. Ich bin ja auch auf der Gegengeraden“, meine Alex und erklärte Tobias auch nochmal seine Funktion als Ansprechpartner für sexuelle Vielfalt beim SV 98. Von alledem wusste Tobias bisher gar nichts und war froh endlich eine Handlungsstrategie zu haben. Er verabschiedete sich von Alex und lief weiter zur Gegengerade, einige Jungs aus der aktiven Fanszene verteilten Flyer zum Aktionsspieltag und als Tobias auf seinen Platz kam, stellte er fest, dass an jedem Sitzplatz im Stadion solch ein Flyer bereits hing. „Das ist echt mal eine coole Aktion!“ meinte er zu Torsten, der zustimmend nickte, während er sich den Flyer durchlas. Auf der Nordtribüne hing ein lilafarbenes Banner mit der Aufschrift „Fußballfans gegen Homophobie“, das Tobias seinen Freunden zeigte. „Ja, da hat die Mannschaft unter der Woche schon ein Bild mit gemacht. Hattest du das gar nicht gesehen?“ – „Nee, echt? Die ganze Mannschaft? Sau gut, zeig mal her…“ Tobias war richtig euphorisiert und die negativen Gedanken des letzten Besuchs schienen wie verflogen. Eine so deutliche Positionierung seines Vereins hatte er zwar stets herbeigesehnt, aber eigentlich für nicht möglich gehalten. Er war sich auch immer unsicher gewesen, wie so etwas denn angenommen werden würde.
Die Antwort darauf kam nur wenige Minuten später, als es hinter den Jungs lauter wurde. Als Tobias sich umdrehte, bemerkte er den gleichen Fan, der gegen Osnabrück so laut gepöbelt hatte. Dieser schien in einer energischen Diskussion mit seinen Sitz-Nachbarn verwickelt zu sein. „Wenn Dir das nicht passt, kannst Du gern zu einem anderen Verein gehen!“ sagte gerade ein älterer Herr zu dem Mann, der wieder einen hochroten Kopf hatte. „Ich lass mir sicher nicht vorschreiben, was ich zu sagen habe! Wen beleidige ich denn damit?!?“ brüllte dieser zurück. „Mich!“ rief Tobias von unten zu ihnen hoch und bereute es sogleich wieder, da sich nun viele Blicke auf ihn richteten. Er lief rot an, nahm allen Mut zusammen und sagte laut: „Mich beleidigst Du damit! Ich bin schwul, aber genauso Lilienfan wie Du auch. Was Du gegen Osnabrück hier rumgebrüllt hast, ging gar nicht! Ich bin deswegen letzte Woche sogar daheim geblieben…“ Dem Pöbler hatte es offensichtlich kurz die Sprache verschlagen. Er stand mit offenem Mund da und starrte Tobias an. Sein Sitz-Nachbar mischte sich jetzt wieder ein. „Siehste! Da sitzt einer, den es direkt beleidigt. Und wenn ich ehrlich bin, hab ich auch keinen Bock auf so einen Mist! Also pöbel weiter rum, aber hör auf damit so dumme Ausdrücke dafür zu verwenden! Oder Du verziehst dich…“ Kurzzeitig wusste Tobias nicht genau ob der Mann nun zuschlagen oder rumbrüllen würde, aber zur Überraschung aller drehte er sich einfach um und ging weg. „Sau gut!“, sagte Torsten. „Da sieht man mal wieder, wie wichtig solche Sachen und ein bisschen Zivilcourage sind. Ich bin stolz auf dich, Tobi!“ Tobias nickte dem Mitdiskutierenden ein paar Reihen weiter oben dankend zu und drehte sich nun auch zum Spielfeld um. Es war ein unglaublich befreiender Moment für ihn. Noch nie hatte er sich in einem Stadion vor so vielen Menschen als Homosexueller zu erkennen gegeben. Keine Ablehnung, sondern Zuspruch zu erfahren, war ein wirklich gutes Gefühl und Tobias verspürte eine extrem große Identifikation mit seinem Verein.
Das Spiel war heute dazu auch einfach Bombe! Dursun und Honsak brachten die Lilien mit zwei schönen Toren schnell in Front gegen den Tabellenvierten aus Heidenheim. Das Bölle frohlockte und Tobias sang bei allen Liedern lauthals mit. Es war der beste Stadionbesuch seit sehr langer Zeit, dazu kam die Frühlingssonne und alle hatten scheinbar einfach gute Laune und Spaß am Spiel. „So muss Fußball sein…“, dachte Tobi Anfang der zweiten Halbzeit gerade, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Er drehte sich überrascht um und der Mann, der vorhin wutschnaubend seinen Platz verlassen hatte, stand nun direkt hinter ihm. Tobias wich erstmal zurück. Er hatte überhaupt keinen Bock auf eine Konfrontation, gerade nicht an so einem schönen Tag. Seine Freunde drehten sich auch um und stellten sich demonstrativ vor ihn. „Sorry, wollte mich nur bei Dir entschuldigen.“ nuschelte der Mann kleinlaut. „Bei den Lilien dreh ich manchmal einfach durch. War nicht so gemeint.“ Und er drückte Tobias ein Bier in die Hand. „Schon…schon ok“, sagte dieser, denn er hatte keine Ahnung, wie er auf diese Situation reagieren sollte. Sie stießen miteinander an. „Ich hab mich in Zukunft besser im Griff, was sowas angeht. Auf die Lilien!“ prostete ihm der Mann zu. „Auf die Lilien!“ prostete Tobi zurück und beide schauten weiter das Spiel.
Am Ende siegte der SVD mit 2:0, doch was für Tobias viel mehr wog: Heute hatte ihm der Verein gezeigt, dass er sich hier nicht verstellen oder verstecken brauchte. Er war ein Blau-Weißer wie alle hier, die zusammen eine bunte Mischung ergaben. Dieses Gefühl war unglaublich gut und befreiend zugleich. Als sie das Stadion verließen, zog Tobias den Rest noch in Richtung Fanshop. „Was wollen wir denn da?“ fragte Torsten genervt. „Ich hol uns Karten für Bochum nächste Woche“, sagte Tobias und lächelte. Das würde er sich nicht entgehen lassen…