#SGDSVD | Die Leiden des Nicht-im-Stadion-Seiers

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Glaubt Ihr an Karma im Fußball? Seid Ihr solche Fans, die nach einem Sieg für das nächste Spiel erst mal alle Rituale so beibehalten? Gleiches Shirt, am besten gleicher Platz, gleicher Würstchenstand, gleiche Anzahl Bier? Es gibt ja die Schmetterlings-Theorie. Die besagt, dass ein Flügelschlag eines Schmetterlings ausschlaggebend für die Entwicklung der Weltgeschichte sein kann. Hätte er nicht in diesem Moment mit dem Flügel geschlagen, hätte er nicht in jenem Moment den Käfer irritiert, der deshalb vom Vogel gefressen wurde. Dieser Vogel wiederum saß genau in jenem Moment auf dem Ast eines Baums in meinem Garten, als ich da zufällig hinsah… Ich kürze das jetzt mal ab, man kann dadurch natürlich konstruieren, dass sich alles gegenseitig beeinflusst. Wir alle kennen: „Wäre, wäre, Fahrradkette“… 😉

Wenn ich nicht im Stadion sein kann, bin ich bei Spielen doppelt so nervös wie sonst. Du kriegst die Stimmung nicht mit, siehst nicht die Entwicklung des Spiels. Wenn ich es dann auch nicht sehen, sondern nur hören oder gar nur in irgend einem Liveticker verfolgen kann, ist es nochmal schlimmer. Daher schwanke ich, was emotional schlimmer ist. Letzteres – oder wenn ich einfach gar nichts mitbekomme und nur nach Spielschluss das nackte Ergebnis erfahre. Geht man danach, dass am Ende ja eh nur das Ergebnis zählt, müsste ich mir einfach sagen: Maggus, mach das Handy aus, genieß‘ knapp zwei Stunden Digital-Detox, Du kannst es ja eh nicht ändern. Aber ist Fansein nicht genau das? Das Hoffen und Zittern und die ganze Emotionalität, die Dich einfach mit Wucht trifft? Kriegst Du was mit, leidest Du mit. Kriegst Du nix mit, leidest Du trotzdem mit und malst Dir zig verschiedene mögliche Spielverläufe aus, von denen mindestens zig-minus-eins total sinnlose Gehirnaktivität sind, weil Du ja nix mitkriegst.

Warum diese ganze Einleitung? Weil ich nicht nach Dresden konnte. Berufsbedingt. Keine Chance. Und es mir die Möglichkeit gibt, das mal exemplarisch aufzuschreiben, was ich – und sicherlich viele von Euch so ähnlich – dann durchmachen. Ich hab echt drüber nachgedacht, einfach das Handy auszumachen und das Ergebnis so hinzunehmen. Hab ich aber nicht geschafft. War in meiner Historie auch nicht so oft von Erfolg gekrönt…

Also: Job um ca. halb fünf beendet, in einer Stunde gibt es die Aufstellung. Aufs Rad geschwungen, heim gefahren. Töchterlein und Partnerin sind noch beim Einkaufen. Für halb sieben hat sich eine Kollegin zum Übernachten angekündigt. Genau zum Anpfiff. Puh… Um kurz nach halb sechs kommt die Aufstellung über die Ticker. Paik, Bader und Honsak für Mehlem, Herrmann und Skarke. Aha, mal was Neues. Die restliche Familie kommt um 18 h nach Hause und dann ist erst einmal Spielen angesagt. Töchterlein hat gerade Lego für sich entdeckt, Flashback in meine Kindheit. Im Kinderzimmer liegen die Steine meiner früheren Bagger, Feuerwehrautos und Krankenwagen ziemlich durcheinander herum. De Babba baut mit und versucht zu vergessen, dass da bald Anstoß ist…

Was? Schon kurz nach halb sieben? Okay, Spiel wird jetzt wohl laufen… Beim Krankenwagen fehlt ein Teil, ist nicht auffindbar… Ob ich doch mal kurz auf die kicker-App schaue? Nee, oder? Na toll! Nach nicht einmal fünf Minuten führt Dresden! Oh Mann!!! Die Transfermarkt-App vermeldet auch durch ein freundliches „Bing“ die Sachsen-Führung. Okay. Hätte ich das Ding auch echt auslassen können, statt mich gleich zu ärgern. Na ja, das einzig Gute ist, dass noch mindestens 85 Minuten zu spielen sind und zumindest wir in solchen Situationen auch schon öfters mal frühe Führungen verschusselt haben. Ich wende mich wieder den Lego-Teilen zu… Da! Das nächste Bingen! Und für einen Moment steht die Zeit still. Du weißt: Es ist definitiv wieder was passiert. Du weißt nur nicht, was. Und der Blick auf das Handy wird entweder dazu führen, dass Du gleich ziemlich verärgert oder ziemlich erleichtert sein wirst. Weil da entweder 2:0 oder 1:1 steht… Du hoffst das Beste und ahnst das Schlimmste… PAIK!!! Ja, Mann, wir sind wieder zurück im Spiel…

Kurz die Beine vertreten, im Alter von 39 Jahren ist Lange-Im-Schneidersitz-auf-dem-Boden-Sitzen nicht mehr so ganz unproblematisch… Schneller Ruf in die Küche: „Da steht’s nach 8 Minuten schon 1:1, das kann ja was werden…“ worauf ein „Na, also, wird schon!“ zurückschallt. Wieder zurück im Kinderzimmer habe ich kaum wieder auf dem Teppich Platz genommen, da bingt es schon wieder… Spiel gedreht? Oder schon wieder kurz nach dem eigenen Treffer das Gegentor gefangen…? Da steht wirklich KEMPE!!! Ey, Leute, Ihr macht mich fertig. Jetzt sind wir es, die früh führen…

Es klingelt an der Tür… Meine Kollegin ist da, großes Hallo nach mehreren Monaten, die wir uns nicht über den Weg gelaufen sind. Ich will mich total gerne mit ihr unterhalten, aber irgendwie bin ich nur zu 98% aufmerksam… Wir führen…!!! Ich erkläre kurz: „Du, äh, Du weißt ja, Darmstadt, wir spielen gerade, sind gerade in Führung gegangen, ich guck einfach so alle 10 Minuten mal kurz auf’s Handy, okay? Nee, nee, passt schon, alles gut! Und sonst so?“ Sie erzählt, und mit der Führung im Rücken werden aus den 98% so langsam wieder mehr. Töchterlein hantiert weiter munter mit Lego und so nach und nach kommen auch Kollegin und Herzensdame in ein angeregtes Gespräch. Ich nutze kurz die Chance, um mich über die letzten 20 Minuten zu informieren. Wir spielen scheinbar ziemlich gut, hatten auch schon ein paar Chancen auf das Dritte, aber die Konsequenz fehlt noch. Abendessen ist fertig. Kurz Händewaschen. Bing! Och nö. Bitte jetzt nicht vor der Pause das 2:2. Geht doch bitte EINMAL mit einer Führung in die Kabine! Hatten wir in dieser Saison erst zweimal, hat aber in beiden Fällen zu einem Sieg gereicht, gegen Fürth und in Hannover. Dass es das 1:3 sein könnte, will mir irgendwie gar nicht in den Sinn, ich kenne doch meine Heiner… Und ich gucke auf das Display. Steht da tatsächlich – 1:3!!! Jaaaaaa!!! Ich balle die Faust! Dursun! Krass! Wir machen tatsächlich vor der Pause das Dritte! So. Und jetzt bitte keinen Murks in der 2. Halbzeit. Genau so weiterspielen. Bitte!!!

In der Whatsapp-Gruppe des Fanradios herrscht schon leicht euphorische Stimmung. Geile Halbzeit, wir haben die ziemlich im Sack. „Abwarten“, schreibe ich, „es haben schon Teams 3:0 zur Pause geführt und noch das CL-Finale vergeigt.“ Ich sollte nicht so pessimistisch sein. Na ja. Sogar wir haben mal das Kunststück geschafft, in einer Nachspielzeit zwei Hütten zu machen. Gegen wen? Ja, genau. Dresden. Zum 3:3. Ich gehe dann mal Abend essen. „Wir haben gerade eben das Dritte geschossen, unglaublich!“ sage ich. „Na, dann, kannste jetzt ja völlig entspannt sein!“ bekomme ich zu hören. Prinzipiell richtig. Für die nächsten gut 10 Minuten. Denn so lange dauert die Halbzeitpause. „Das ist noch lange nicht vorbei“, gebe ich zur Antwort. Lecker ist’s, es gibt frisches Brot vom Bäcker und neuen Lieblings-Brotaufstrich…

Ich bleibe auch nach halb acht am Tisch sitzen. Schwanke zwischen Anspannung und Selbstberuhigung. Das Handy liegt außerhalb meiner Reichweite auf der Anrichte. Keine Nachrichten sind gute Nachrichten. Ich hab ganz kalte Hände. Das Tischgespräch ist so konstruktiv wie gerade möglich. So um Viertel vor acht sind alle satt und ich räume ein paar Teller in die Spülmaschine. Dabei schnappe ich mir das Handy und lege es neben mir auf die Bank. Wird man für Es-nicht-aushalten-können bestraft? Oder habe ich mir den Moment, dass es wieder eng wird, zu bildhaft ausgemalt, so dass er tatsächlich Realität wird (das klappt umgekehrt eher selten bis nie). Just in dem Moment, als meine Hand Richtung Handy zuckt (oder wusste es mein Unterbewusstsein schon eine Millisekunde früher?), macht es „bing“. Wieder der Moment: Deckel drauf – entspannter Abend? Oder: „War ja klar…“? Letzteres. 2:3. Und noch keine 60 Minuten vorbei. Geht also das Gezitter wieder los. Die Damen am Tisch bemerken meine Angespanntheit. „Komm, sie führen doch noch…“ Ja ja. Psychologie und Momentum im Fußball sind schon 98fach analysiert worden. Es macht den Fußball ja auch aus, dass Spiele kippen können. Mir erscheint eine 3:4-Niederlage gerade nicht sehr unrealistisch. Absurd, oder? Dass sich eine 3:2-Führung so anders anfühlt, wenn man nicht selbst das letzte Tor gemacht hat… Ich sitze weiter am Tisch und hoffe auf das Schweigen des Handys. Vergebens.

„Bing!“ Ich muss gar nicht hingucken. Ich weiß es bereits. Dort steht jetzt 3:3. So ist es. Warum müssen meine Befürchtungen denn immer wahr werden? Warum, warum, warum? Der nett gemeinte Spruch, dass es ja noch immer 20 Minuten sind und wir ja noch das Siegtor schießen können, treibt mich vom Tisch weg. „Sorry, Ihr Lieben, ich bin grad zu nervös, ich geh mal für die restliche Spielzeit rüber ins Arbeitszimmer, okay…?“ Ich pack es emotional nicht mehr. Ich muss ans Fanradio. Will wissen, was Flo und Moritz erzählen, wie die Stimmung ist, dabei sein. Obwohl ich mir auch für den Bruchteil einer Sekunde vorstellen kann, einfach die Schuhe anzuziehen, das Handy auszumachen, und bis halb neun spazieren zu gehen. Aber irgendwie wäre das auch feige. Wenn alle leiden und bibbern, darfst Du nicht kneifen. Vielleicht beeinflusst ja die Summe der bibbernden Gedanken irgendwo einen Schmetterlingsflügel…

Der Laptop ist hochgefahren, Fanradio ist aufgerufen, Verbindung baut sich auf, parallel der Ticker von flashscore (die sind immer ziemlich schnell und kündigen „Ball im Tor“ mit so einem pulsierenden roten Punkt an). Und das dritte Medium ist der „Spieldaten“-Reiter vom kicker, denn da gibt es eine quasi in Echtzeit laufende schematische Darstellung des Spiels. Man sieht dort Striche und Nummern über ein Spielfeld huschen und hat so eine Vorstellung, wo gerade der Ball sein könnte. Und dort steht „VAR/Goal“. Das Spiel scheint unterbrochen zu sein. Ich gucke da nochmal hin. Wie, VAR/Goal? Tor wird überprüft? Was sagt der Ticker? Nur VAR. Flashscore? Noch 3:3. Dann aber nur 2:3. Hat er es nicht gegeben? Bitte, gib es nicht! Er gibt es nicht! Ich bin wahrlich kein Freund des Videobeweises, aber jetzt gerade, in dieser Sekunde bin ich für einen Augenblick versöhnt und schäme mich dann auch gleich dafür. Na ja, müssen wir jetzt hinnehmen, können wir nicht ändern. Also, jetzt gerade, in der 72. Minute. Und dann ist auf Flashscore da so ein rotes Viereck neben „Dresden“? Hä??? So langsam begreife ich, dass es wohl gerade mega abgeht auf dem grünen Rasen… Und endlich läuft auch die Übertragung des Fanradios. Alles spricht dafür, dass das Tor aberkannt wurde. Wir führen noch. Und die Dresdner sind einer weniger. Nachdem wir letzte Woche gegen Osnabrück uns in Überzahl einen einschenken lassen haben, ist das für mich irgendwie trotzdem kein Ruhekissen… Ich hüpfe kurz in die Küche, muss mich mitteilen: „Der Schiri hat das Tor aberkannt, keine Ahnung, warum, aber wir führen noch…“ Ich ernte einen irgendwie mitleidigen Blick. „Okay, bis gleich…“ Und weg bin ich. Mit dem einen Auge auf dem kicker-Spielschema, das ein paar Sekunden schneller zu sein scheint als das Fanradio, und dem anderen Auge auf dem Liveticker, wo ich unter keinen Umständen einen pulsierenden roten Punkt bei auch nur irgendeiner Heimmannschaft sehen will, verfolge ich die letzten dramatischen Minuten. Es geht mir viel zu sehr hin und her, Honsak Pfosten, Schuhen rettet. Und irgendwann, als Flo noch die letzte brenzlige Situation kommentiert, blinkt auf Flashscore „beendet“. „Jaaaaaaa!!!“

Das Adrenalin im Blut macht, dass ich auf meinem Stuhl zusammensinke, erleichtert die Faust balle… Später ist noch Zeit, das ganze Wie und Was nachzuvollziehen. Jetzt erst einmal: Wir haben den Dreier, der so wichtig war! Inzwischen ist mein Töchterlein bettfertig, jetzt könnte ich völlig entspannt, von mir aus so viele PIXI-Bücher vorlesen, wie sie mag, aber heute ist die Mama dran. Und so gehe ich zurück ins Wohnzimmer und begrüße meine Kollegin nochmal richtig. Irgendwie wacher. Warum das so ist, versteht sicherlich nicht jeder, aber vielleicht Ihr…

Nächsten Sonntag, wenn es gegen Sandhausen geht, sitze ich sehr wahrscheinlich im Zug… Kall, mei Drobbe…

Autor: Markus

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