#D98SGD | Systemabsturz

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Systemabsturz

Wenn bei meinem Computer plötzlich nichts mehr geht, ist das oft ziemlich doof. Langen Text geschrieben, nicht zwischengespeichert, Arbeit von Stunden für die Katz, der Klassiker… Klar, Ihr sagt jetzt: „Wenn Du doch weißt, dass Dein Computer net mehr der Aktuellste ist, guck halt, dass Du automatisch zwischenspeicherst.“ Jaaa… macht man halt doch nicht und dann gibt’s eben die Quittung. Warum dieser Einstieg? Weil mich das – auch das ist ja nach den Ereignissen der letzten Tage logisch und allen irgendwo hinkenden Quervergleichen zum Trotz – an unsere Situation erinnert. Und wo ich mich frage: Kann ich als Computerexperte gegensteuern, Anzeichen erkennen, um was zu reparieren, bevor es zum Systemabsturz kommt und ich mir evt. meine Festplatte geschrottet habe oder sogar gleich einen komplett neuen Computer brauche? Ist es ein Virus und hat mein Schutzprogramm versagt? Was ist mit meinen ganzen Daten aus der Vergangenheit und Plänen für die Zukunft?

Bei den Lilien ist es mit Dirk Schusters Freistellung zum Systemabsturz gekommen. Die Medien spekulieren viel, erzählen Geschichten, haben Dinge gehört. Handelnde Personen äußern sich, teils vage, teils konkreter, aber wie viel davon verlässliche Fakten sind, weiß ja jeder einzuschätzen, der ein paar Jahre unseren schönen Fußballsport verfolgt… Dass Systeme im Fußball abstürzen ist keine wirklich neue Erkenntnis, da kann jeder Verein seine eigenen Geschichten erzählen. Bei uns ist es so tragisch, da er zur absoluten Unzeit kommt. Scheinbar haben ihn ja manche kommen sehen, die vielleicht lauter hätten gehört werden müssen. Andere, die ihn hätten kommen sehen müssen, haben die Dynamik vielleicht schlicht unterschätzt.

In solchen Momenten ist häufig Wundenlecken eine natürliche Reaktion. Problem daran: Wir haben eigentlich keine Zeit dafür. Blick nach vorne! Weiter geht’s! Aber der Drang, das zu tun, ist so immens groß, weil man verstehen will, was da passiert ist, deshalb mache ich es trotzdem, auch wenn es länger dauert…

Schauen wir auf die Fakten: Dirk Schuster und sein Trainerteam übernehmen Ende 2017 ein mausetotes Team, das seit dem 6. Spieltag sieglos war und in den folgenden elf Spielen gerade einmal fünf Pünktchen eingefahren hatte. So viel zu der vermeintlichen „spielerischen Weiterentwicklung“ unter Frings. Es gibt zu Schusters Rückkehr in Fürth ein Last-Minute-Abschieds-Weihnachtsgeschenk von Hamit Altintop, dann einige Winterzugänge, die das Team nach einer Februar-Krise mit vier Niederlagen mit stabilisieren und eine unfassbare, hart erarbeite und zum Teil auch sehr glückliche Serie von elf Spielen ohne Niederlage. Nach dem üblen Februar 2018, der längsten Niederlagenserie, die es am Bölle unter Schuster überhaupt bis dahin gab, hatte er es wieder getan: eine Punkte-Serie hingelegt, so wie auch in den beiden Aufstiegssaisons der SV 98 über Monate hinweg nicht zu bezwingen war. Wie ging das? Mit einer Wagenburg-Mentalität, der absoluten Fokussierung aller auf das nach Überzeugung des Trainerteams Wesentliche – und das in einer Situation, die jeden Tag absolut existenzbedrohend war. Die entscheidende Frage im Fußball ist nicht, WIE ich Erfolg habe, sondern OB. Das WIE ist erst dann interessant, wenn er ausbleibt und auch nicht auf Teufel-komm-raus zurückkommen will. Dann wird das WIE hinterfragt, Panik steigt auf und der Glaube schwindet – im Fußball, in dem auf diesem Niveau so vieles Kopfsache ist, fatal.

Spätestens seit letztem Sommer befindet sich der Verein im Spagat zwischen finanziellen Altlasten aus Fehleinschätzungen der jüngeren Vergangenheit, Stadionumbau und Neujustierung der Mannschaft. Für eine Weiterentwicklung des Teams müssen die Transfers sitzen. Die Liga ist hart, viele Teams sind aus der letzten Saison gut eingespielt, bei uns, so hat man den Eindruck, werden nun erste Löcher gestopft: Mit Hertner kommt ein dritter Linksfuß, Franke ersetzt Bregerie, Heller kommt zurück und soll endlich wieder für Geschwindigkeit über außen sorgen. Dazu wechselt Serdar Dursun kurz vor Saisonstart ans Bölle und trifft ohne viel Trainingszeit gleich im ersten Spiel. Rieder (Defensivallrounder), Wurtz (Offensivallrounder) und Pechvogel Gündüz (Außenbahn) bleiben neben den Torhütern Sattelmaier und später Grün die einzigen Transfers. Schon damals fordern viele der Außenstehenden Verstärkungen für rechts hinten und im zentralen Mittelfeld. Und zu alledem noch bitte eine sportliche „Weiterentwicklung“ und natürlich auch den Einbau junger Talente. Eigentlich eine eierlegendewollmilchsaumäßige Aufgabenstellung. Kann denn wirklich alles auf einmal gehen? Ein systemstabiles Upgrade auf allen Ebenen?

Die jetzt abgelaufenen 22 Spieltage sind eigentlich schnell erzählt und in sechs Phasen eingeteilt:
Phase 1: Ergebnistechnisch ein guter Start, weil Paderborn und Duisburg daheim und Heidenheim auswärts jeweils zu Null bezwungen werden (wenn auch zum Teil glücklich vom Spielverlauf). Sogar im Pokal bestehen wir im Magdeburger Hexenkessel und kommen zu Null weiter. Einziger Ausreißer ist in dieser Phase der Auftritt am Millerntor, der einen ähnlichen Befund wie im Jahr zuvor unter Frings zeigt – es sei an das Pokalspiel in Regensburg erinnert. Das Team ist in manchen Situationen zu langsam, physisch und gedanklich, und bekommt immer dann Probleme, wenn der Gegner mit Tempo unsere Kompaktheit aufbricht. Mit Glück wird die Heimniederlage gegen Sandhausen in letzter Sekunde abgewendet, aber dann scheint es aufgebraucht zu sein:
Phase 2: Während bei der Entstehung der Gegentore in Dresden noch mehrere abgefälschte Schüsse dabei sind, verspielt das Team in der Englischen Woche im Heimspiel gegen Bielefeld einen sicher geglaubten Sieg in der Nachspielzeit noch komplett. In Kiel (trotz Überzahl) und gegen den HSV ist ebenso nichts zu holen. Zu oft kriegen wir Standards nicht verteidigt oder lassen den Gegner einfach durchlaufen. Die zweite 4-Niederlagen-Serie im Jahr 2018.
Phase 3: Das Team scheint die Kurve zu kriegen. In Regensburg nimmt man einen Punkt mit, die Heimspiele gegen Fürth (zu Null) und Magdeburg werden gewonnen, obwohl auch in diesen Spielen die beiden Gegentore sehr vermeidbar waren. Das Pokalspiel gegen die Hertha war stark, erst ein Abstaubertor nach erneutem Sololauf bringt uns auf die Verliererstraße.
Phase 4: Das Team fällt in alte Muster zurück. In Bochum vergeben wir eine Riesenchance, dann erhält Weilandt vor seinem Tor zum wiederholten Mal Geleitschutz, gegen Köln fangen wir uns das 0:1 nach eigenem Freistoß und bei den heimstarken Unionern aus Berlin klären wir eine Ecke schlecht und verweigern eine energische Zweikampfführung vor dem 0:2. Dursun erzielt in diesem Spiel zum ersten Mal in dieser Saison ein Auswärtstor nach der Halbzeitpause… Wieder eine Niederlagen-Serie von diesmal drei Spielen, insgesamt schon die achte aus 15 Spielen. Doch es ist ja alles irgendwie begründbar: Gegner wie der HSV und Köln dominieren die Liga, der „kleine SV 98“ tut sich eben gegen die sportlichen Liga-Großkaliber, zu denen ja auch Teams wie Union, St. Pauli oder Kiel gehören schwer, da kann man schon in Rückstand geraten und halt verlieren. Nach unten bleibt der Abstand ja groß genug.
Phase 5: Die Gegengerade fällt. Und mit dem Spiel vor dem Abriss gegen Ingolstadt, bei dem Kapitän Sulu fehlt, gibt es nach nicht einmal 30 Sekunden Elfmeter für die Gäste, die auf dem letzten Tabellenplatz stehen. Den Punkt rettet ein zweifelhafter Elfmeter… In Aue trifft Dursun den Pfosten, im Gegenzug Testroet ins Tor, der ebenfalls wieder einfach durchlaufen darf. Das Team doppelschlägt sich überraschend zurück und ist dem Sieg am Ende näher. Im dritten Spiel dieser Phase geht das Prinzip „Rückstand und Rückkehr“ schief – um nicht zu sagen, komplett in die Hose. Zweimal kommen wir mehr oder weniger aus dem Nichts zurück, haben sogar die Führung zum 3:2 auf dem Fuß, aber dann darf Tekpetey unsere Abwehr aufreißen, Michel überlupft Heuer Fernandes – und da das alles noch nicht übel genug ist, gibt es das 5. nach einer Ecke und das „Ende des Capitanos“. Frohe Weihnachten.
Die Winterpause ist die Phase des Versuchs nachzujustieren. Allen scheint klar zu sein, dass es so nicht gutgehen wird. Reparaturen beginnen, die Statik des Mannschaftsgefüges gerät ins Wanken. Es kommt eine Alternative zu Jones, ein Rechtsverteidiger, ein Ersatz für Sulu, der sich als „Schusters verlängerter Arm“ in die Türkei verabschiedet, sowie zwei zentrale Defensivspieler. Alles doch im Grunde verständlich…
Phase 6: Bis zur 80. Minute hat man im Spiel gegen St. Pauli das Gefühl, dass gegen die Großen halt nicht wirklich viel geht. Nach vorne zu ausrechenbar, hinten mit dem entscheidenden Fehler. Doch die Baustelle bebt in den letzten 10 Minuten zweimal. Geht doch! Aber es ist nur eitel Sonnenschein, denn auch in Duisburg dreht das Team erst auf, nachdem es eigentlich aussichtslos hinten liegt. Dort reicht es nicht mehr. Heidenheim ist der breitbrüstige Gegner, der genau weiß, mit seiner intensiven Spielweise nur auf unsere Fehler warten zu müssen. Die Tore fallen zum x-ten Mal nach demselben Strickmuster. Auch hier gibt es noch die vergebliche Schlussoffensive. Und jetzt eben Sandhausen. Gegentor nach Ecke, zweifelhafter Elfer, hintenraus wieder eher Übergewicht, aber die Eintütung des Punktes ist wichtiger.

Wo ist der Fehler? Wo ist das System kaputt gegangen? Es gibt viele starke Teams in dieser zweiten Liga. Zu Schusters Hochzeiten gingen wir in Führung und die vermeintlich stärkeren Gegner bissen sich an uns die Zähne aus. Nun geraten wir in Rückstand und rennen dauernd hinterher. Das geht einmal gegen St. Pauli gut, zweimal zweifelhaft, einmal per Doppelschlag – und halt erwartbar sechsmal schief. Wurden wir damals „unterschätzt“ und werden jetzt „ernst genommen“ bzw. sind „entschlüsselt“? Ist das so einfach erklärt? Die Tatsache, dass wir zehnmal in Folge in Rückstand geraten, ist vielleicht ein erster Schlüssel zum Systemfehler. Gibt man den Spielern den schwarzen Peter, liegt es an zehnmal schlicht schlechtem Defensivverhalten. Geleitschutz und schlecht verteidigte Standards sind ein Armutszeugnis für alle Beteiligten auf dem Platz, das sind Basics. Gibt man ihn dem Trainerteam, liegt es daran, einerseits offensiv zu wenig Lösungen gefunden zu haben, um das schlechte Defensivverhalten auszugleichen – und andererseits es nicht geschafft zu haben, die Qualitäten der Spieler so in ein Mannschaftsgefüge zu integrieren, dass die Rädchen ineinander greifen.

Das Tragische ist, dass man sich die Fortschreibung des Märchens so sehr gewünscht hätte. Dankbarkeit ist nicht die Triebfeder des Fußballgeschäfts, darf es vielleicht auch nicht sein. Erfolge zählen schon am Tag danach nicht mehr viel, „das Schwierigste am Erfolg ist die Zeit danach“, so schrieben wir schon zum Abschied von Aytac Sulu. Doch noch weniger, wie der „Capitano“ am Bölle je vergessen sein wird, werden Dirk Schuster, Sascha Franz und Frank Steinmetz vergessen sein. Es wird das Team der „Wunder“ bleiben, der Dank für all den Einsatz und auch den Mut zur Rückkehr ist mindestens 1898fach. Danke ist dafür ein zu kleines, kurzes Wort.

Es ist ein teurer Systemabsturz. Brauchen wir nur einen „Kaltstart“ oder sind Festplatte und Hardware kaputt? Ist es ein Virus? Oder wird die installierte Software halt nicht mehr „supportet“, weil es eine aktuellere Version gibt und man vergessen hat, das Update downzuloaden? Wie teuer das alles wird, werden wir sehen und es ist nicht klar, was tatsächlich der Befund ist. Wir stehen gerade im Fachhandel, haben noch Strom für zwölf Hochfahr-Versuche und werden dann wissen, ob noch mehr an die Wand gefahren ist als nur die alte Festplatte. Es ist der dritte Trainerwechsel im dritten Winter hintereinander, die dritte Groß-Reparatur. Die Spieler müssen am Samstag anfangen, den Beweis anzutreten, dass die Hardware intakt ist und es „einfach nur“ mit einer neuen Software gelingt, den Systemabsturz zu reparieren. Ist es Ironie, dass es gegen Dresden geht, wo es in der Hinrunde zum ersten Mal so richtig den Schuss vor den Bug gab? Dresden als Bug-Fix-Update?

Mit jedem Neustart geht die Hoffnung einher, dass die Fehler nur temporär waren und die Arbeit mit dem Computer wieder Spaß macht, jeder Neustart ist auch eine Chance, aber in dieser Lage mit der Eierlegendenwollmilchsauigkeit eine Herkules-Aufgabe. Das kann auch grandios schiefgehen. Und dann? Lieber nicht dran denken…? Wir Fans als „Endnutzer“ wünschen uns nichts mehr, als dass das System, der Verein, eine stabile, mittel- und langfristige Zukunft hat. Allen, die gerade mit der Reparatur beschäftigt sind, wünschen wir das beste Wissen und Gewissen für ihr Handeln.

Autor: Markus

2 Kommentare

  1. Es war doch längst überfällig, das Schuster abgelöst wurde.
    Seit Wochen planlose Spiele und man hat den Eindruck, das er nicht weiß, was er tun soll.

    Schuster ist nicht schlecht oder Schuld an dem schlechtem abschneiden.
    Er ist bei dieser Mannschaft einfach nur der falsche Trainer!!

    Und Sulu hat in den letzten1,5 Jahren so abgebaut, das wir uns schon die ganze Zeit fragten, wann kommt endlich Ersatz.

    Er wird genauso schnell vergessen werden, wie damals Thomas Schmidt.

    Für mich ist Schmitti immer noch der Kapitän schlechthin.

  2. Hallo Markus,
    toll geschrieben! Dein Artikel spiegelt sehr gut den Zwiespalt wieder, den man momentan als Lilienfan empfindet. Manchmal bewirkt ein Neustart beim Computer ja wirklich Wunder nachdem man ziemlich am Verzweifeln war;-)

    *auch Dirk Schuster und seinem Team wünsche ich wirklich einen guten Neustart …

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